aus dem Booklet (als PDF)

Pressestimmen

Blick nach gestern
„‘Hungerjahre’ von Jutta Brückner ist ein herber, spröder und gleichzeitig sehr schöner Film, der Erinnerungen sehr präzise fasst - auch kollektive Erinnerungen an die Jugend eines Mädchens in den fünfziger Jahren in der BRD. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung zwischen einer Tochter und einer Mutter. (...)
Sie ist kein Kind mehr, ihr Körper verändert sich, und niemand, auch die Mutter nicht, erklärt ihr, was tatsächlich los ist. Aber man schreibt ihr ein neues Verhalten vor: Sie soll nicht mehr, wie bisher, mit Knaben spielen, sie soll nicht mehr herumtollen, sie soll still sein und fleißig. (...)

Ursula beobachtet so vieles, was nicht zusammenpasst. Niemand redet, oder sie reden, wie ihre Tanten und ihre eine Großmutter es tun: enttäuscht vom Leben, aber die Enttäuschten haben sich längst hinter Bigotterie verschanzt oder machen sich in autoritären Ratschlägen Luft.
Ursula beobachtet einen sich abkapselnden Vater, eine Mutter, die verängstigt in ihrer konventionellen Frauenrolle verhaftet bleibt, obwohl sie Ansätze zum Ausbrechen gekannt hat und auch jetzt wieder eine Art Ausbruch versucht. Aber Arbeiten-Gehen ist kein Schritt in die Freiheit, nicht in dieser Zeit; es ist ein Sich-Einpassen in einen damals von der Wirtschaft geförderten Trend, und es bedeutet Doppelbelastung und vermehrte Zwänge.
Ursula verlegt sich aufs Beobachten, weil ihr das Handeln nicht gestattet ist, jedenfalls nicht ein Handeln nach den eigenen Bedürfnissen, den eigenen Vorstellungen. Sie wird stumm, ablehnend, bockig. Sie wird traurig, aber das will niemand verstehen. (...)
Immer stärker rückt ins Zentrum des Films die Auseinandersetzung mit der Mutter. Dabei gelingen Ursula am ehesten erste Versuche der Selbstbehauptung. Wenn sie ins Badezimmer kommt und ihre Mutter, die sich wäscht, überrascht. Die Mutter erschrickt, sie schämt sich. Ursula beobachtet wieder stumm, fremd kommt ihr das vor, sie blickt in den Spiegel, vor dem auch die Mutter steht. (...)

Jutta Brückner hat diesen Film allerdings nicht als eine Anklage an die Mütter gemacht, wenn man auch den Zorn über die Hilflosigkeit und die Verlorenheit einer Heranwachsenden spürt. Sie hat ihn im Rückblick auf die eigene Jugend geschrieben und gedreht, sie hat aber vor allem Erfahrungen ausgearbeitet, die ihr von anderen Frauen bestätigt worden sind. (...)
So führt der Schluss des Films zum Beginn zurück.
Dazwischen liegen drei Lebensjahre Ursulas. Jutta Brückner fügt in Dokumentaraufnahmen die politischen Brennpunkte dieser Jahre ein: den 17. Juni 1953, als in Ost-Berlin gegen das Ulbricht-Regime protestiert wurde, die Wiederbewaffnung der BRD, das KPD-Verbot. Die Zeitstimmung, die alltägliche Atmosphäre ist selten so eindringlich, so richtig auf der Leinwand zu sehen gewesen - und dies bei einer starken Stilisierung. Jutta Brückner spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sie ‘Filme authentisch machen’ will, statt authentische Filme zu drehen. Authentizität ist nicht nur eine Sache des rein dokumentarischen Filmens, sie hat vor allem mit Übereinstimmung zu tun, mit der Verbindlichkeit des Dargestellten, hier zum Beispiel mit der Erkennbarkeit von Vergangenheit als einer kollektiven.“
(Verena Zimmermann, in: Basler Zeitung)

Kalter Krieg in den Wohnstuben
„Ursula (Britta Pohland) lebt in einer ganz normalen Familie der Bundesrepublik. Der Bundesrepublik von 1953. Sie ist 14, die Republik gerade vier. Der erste Nachkriegshunger ist gestillt, die Jagd nach Wohlstand, Anerkennung und dem Vergessen ist in vollem Gange. Die politischen Zeichen jener Tage signalisieren die Kommentare und Berichte aus dem Radio, die eher beiläufig gehört, selten einmal aufgenommen werden. Für Politik sind andere zuständig, man hat mit sich schließlich schon genug zu tun. Aus dem Radio tönt dauernd Adenauer, aber das summt so mit und vorbei. ‘Der wird&Mac226;s schon machen’, lautet die Devise. Die Welt der Eltern ist mit der Jagd auf Wohlstand ausgefüllt, die wirklichen Probleme jener Tage bleiben unterm Tisch. Mitmachen, bloß nicht aufmucken, eigene Gedanken entwickeln: Chaos hatten wir genug, jetzt wird endlich gelebt. Es geht um das Wohlbefinden und gegen diese verdammten Kommunisten in der Zone. Dort ist der Feind. Die Mutter sagt: ‘Freiheit ist, wenn es uns gut geht’.
Ursula ist das einzige Kind dieser Kleinbürgerfamilie. Sie liebt ihren Vater abgöttisch, hält dagegen zur Mutter eine bestimmte Distanz. Der Vater freut sich über diese ‘Bevorzugung’ und setzt sich schon mal mit ihr hin, um sich zu unterhalten. Er war einst in der KPD engagiert, hat 1930 - ‘unter großer Gefahr’ - Flugblätter verteilt, also Widerstand geleistet. Davon erzählt er gerne. Und heute? ‘Na ja, du weißt, kaum Zeit, es ist schwierig und überhaupt ... man ist älter geworden’. Der Mann ist ein sympathischer, aber armseliger Held, der von und mit seiner Lüge lebt, der sich dann wohl fühlt, wenn er sich und anderen etwas vormachen kann. Der sich aber ansonsten für seine Tochter wenig interessiert. ‘Erziehung mach du mal’, sagt er zu seiner Frau, wenn die nicht weiter weiß, ‘ich muss doch arbeiten und für uns sorgen’.
Ursula soll eine Muster-Tochter werden. Die Mutter diktiert, lässt ihr wenig eigenen Freiraum. ‘Bei Jungen ist das etwas anderes’, klärt sie Ursula auf, wenn die zur Fete ihrer Klassenkameraden möchte. Und: ‘Du wirst uns später mal dankbar sein’. Ursula merkt, dass mit ihrem Körper etwas passiert. Aber auf ihre drängenden Fragen erhält sie nur ausweichende oder gar keine Antworten. ‘Komm mir bloß nicht mit ´nem Kind nach Hause’, wird sie ständig eingeschüchtert. Ursula spürt zunehmend den Druck von zu Hause und die offene Feindseligkeit ihrer Mutter in Sachen Sexualität. Auch von der Schule ist keine Hilfe zu erwarten. Für die Lehrerin geht es jetzt vor allem darum, für die Brüder und Schwestern in der Zone Fett, Fleischwaren und Obst mitzunehmen.
Ursula zieht sich zurück. Ihre schulischen Leistungen lassen rapide nach, die Vorwürfe und Beschimpfungen der Mutter nehmen entsprechend zu. Für sie ist ihre Tochter ihre eigene Jugend - mit all ihrer Muffigkeit, ihren Ge- und Verboten. Niemand in ihrem Umkreis erkennt die Schreie, die Signale, die Hilferufe. Der Vater liebt nach Feierabend sein Bier und geht auch schon mal fremd, und die Großmutter hat die beste Lösung auf alles parat: ‘Töchter sollten bei der Mutter bleiben, das war früher schon so’. Nach ihrer ersten sexuellen Erfahrung ist Ursula hilfloser denn je, ist gekennzeichnet von Angst, Unsicherheit, Scham- und Schuldgefühl. Aber die Mutter hat jetzt noch weniger Zeit, auch sie geht jetzt arbeiten, ‘damit es dir später einmal besser geht’. (...) Der Film, (...), ist eine erstaunliche wie eindrucksvolle Beschreibung jüngster Vergangenheit dieses Landes, und er ist ein Film über eine Generation. Er macht klar, was damals war und warum das so war, und er öffnet das Auge (und den Kopf) dafür, was heute passiert und warum das passiert.“
(Hans-Ulrich Pönack, in: Tip 24/80)


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